Prüfungsangst
- Lars Reckermann
- 23. März 2020
- 4 Min. Lesezeit

Ich bin ein echter Prüfungsschisser. Kaum etwas versetzt mich so in Panik wie eine Prüfung. Beginnt die Prüfung, entscheiden die ersten Sekunden, ob ich die Prüfung im Griff habe oder sie gnadenlos vergeige.
Nehmen wir meine mündlichen Abschlussprüfungen für das Studium. Ich hatte Germanistik am Dienstag, Geschichte am Mittwoch und Politik am Donnerstag. Alle in einem Monat, mehr noch: alle in einer Woche, drei hintereinander. Allein als ich die Termine erhielt, implodierte mein Immunsystem. Ich wurde umgehend krank.
Bei der ersten Prüfung (Germanistik) habe ich den Fehler gemacht, zwei Stunden zu früh zu erscheinen. Zwei lange Stunden saß ich leichenblass in einem Café in Münster und wartete auf meine Hinrichtung. Ich war völlig fertig. Ich konnte mir nicht einmal einen Kaffee bestellen, so nervös war ich. Meine Freundin Tucki war bei mir. Die schaute mich allerdings zwei Stunden lang wegen meines Zustandes unentwegt nur an und schüttelte dabei den Kopf. „So hab’ ich Dich noch nie gesehen“, sagte sie immer wieder. Was für eine Stütze…
Die Prüfung lief aber ganz gut. Eine gute Note verleitete mich schon früher, schnell überschwänglich zu werden. Diesen Fehler wollte ich bei Prüfung Nummer 2 nicht machen. Geschichte. „Die alliierte Besatzungspolitik in den Jahren 1942 bis 1945“ hieß das Thema. Mein Professor und ich wollten uns darüber unterhalten, wann wer und mit wem und vor allem wie alle Deutschland aufzuteilen gedachten. Ich war echt gut vorbereitet und fühlte mich siegessicher, passend zum Thema eben. Eine nette Protokollführerin holte mich vor dem Seminar ab und führte mich zu meinem Professor. „Na Herr Reckermann, aufgeregt?“ „Geht so“, log ich. Als ich ihm zur Begrüßung die Hand gab, griff er anschließend zum Taschentuch, um sich meinen Schweiß von seiner Hand zu wischen. „So, lassen wir mal die Jahre ’42 bis ’45 außen vor und springen wir in die 50er.“ Ich schwöre, dass nach diesem Satz in jedem universitären Prüfungsraum Defibrillatoren vorhanden sein müssen. Mein Herz setzte kurz aus, ich war drauf und dran zu antworten: „Die 50er Jahre gab es doch gar nicht, die kommen doch erst noch.“ Dann wurde es richtig schwarz, also in mir, oder besser in dem Teil von mir, das am oberen Ende meiner Wirbelsäule hängt, also meinem Kopf. Ich stammelte und hatte immer nur das kopfschüttelnde Gesicht der Protokollantin vor Augen. Ich bekam in vollem Wachzustand Albträume. Ich sah mir nach Luft ringend beim Ertrinken zu. Jemand hatte mich in eine riesige Turnhalle eingeschlossen – ohne Ball. Ich bemerkte, dass sich meine Lippen bewegten und anscheinend auch Wörter meinen Mund verließen. Ich konnte aber nicht hören, was ich sagte, ahnte aber ob der schüttelnden Köpfe des Profs und der Protokollantin, dass es nicht richtig war. Von dieser Prüfung sind mir nur Blitzlicht-Bilder im Gedächtnis. Der Professor, der die Brille abnimmt und verzweifelt seinen Nasenrücken reibt. Ein Buch, das mir vor Augen gehalten wird, dazu die Worte: „Erinnern sie sich?“. Um im Geschichtsjargon zu bleiben: Die Schlacht war verloren. Ich war entwaffnet, bevor ich überhaupt zu den Waffen greifen konnte. Ich hatte noch vor dem ersten Angriff die weiße Fahne gehisst – allerdings wurde mir keine Gnade gewährt. Damit sie jetzt nicht denken, ich wäre durchgefallen. Ich wollte unbedingt ein gut, erhielt aber wegen völligem Blackout der 50er Jahre nur ein schwaches befriedigend.
In meine Politikprüfung ging ich dementsprechend unmotiviert. Ich hatte nach erfolgreicher Germanistik-Prüfung in einem Anfall von Größenwahn allerdings meine Freunde Maka und Chico eingeladen, doch den Abschluss direkt nach der letzten Prüfung mit mir zu feiern. Sie begleiteten mich Nervenbündel also zum letzten Schafott und hatten sichtlich ihren Spaß daran, mich leiden zu sehen. Die Zugfahrt nach Münster war die Hölle. Beide malten sich wortreich aus, wie ich erneut einen Totalausfall hinlege. Als mich mein Politik-Professor in sein Zimmer bat, musste ich mich an der Wand des Flures festhalten, so wackelig waren meine Beine.
Mein Politikprofessor bemerkte natürlich meine Nervosität. Erst einmal bekam ich einen Tee, dann einen kleinen Schnaps (es war nach zwölf), damit ich endlich wieder so etwas wie Gesichtsfarbe bekam. Um meine zitternden Hände zu beruhigen folgte Schnäpsken Nummer 2. Während er mir so nachschenkte, plauderten wir über Gott und die Welt und Machiavelli. Das passte, dessen Werke hatte ich auch als Prüfungsfach. Zum Tee plauderten wir über Kommunalpolitik. Auch das fand ich angenehm, denn auch dieses Thema hatte ich in der mündlichen Prüfung. Ich konnte also schon einmal so ganz nebenbei vorfühlen, was da wohl auf mich zukommen wird. Als ich mich endlich wohlfühlte, fernab jeglicher Dehydrierung war und sogar einen leicht Schwips verspürte, sagte ich, wir könnten jetzt anfangen. Da stand mein Prof aber schon auf, gratulierte mir und wünschte mir auf meinem weiteren Weg alles Gute. Das war’s. Der Tee und die ein zwei Schnäpschen gehörten schon zum Prüfungsgespräch. Vermutlich war das höchst illegal. Ich fand’s klasse und bedanke mich hiermit noch einmal ausdrücklich bei Professor M. von der WWU in Münster.
Die abschließende Feier zum bestandenen Magister dauerte exakt drei Gläser Bier. Ich war so fertig, dass ich sofort betrunken war und ebenso schnell in der Kneipe einschlief.
Reichen eigentlich 49 Jahre, na gut, fast 50 Lebensjahre aus, um eine Halbzeitbiografie zu schreiben? Ich denke, es hat sich eine Menge Kurioses, Schönes, Nachdenkliches und Lustiges angesammelt. Bis zu meinem 50. Geburtstag schreibe ich einige Erinnerungen hier einfach einmal nieder. Will doch keiner lesen? Ja Gott, dann lasst es. Wen es interessiert ... willkommen in meiner Welt.
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