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Der wütende Herr Lugabeidl

Aktualisiert: 14. Jan. 2020


Das Foto zeigt den Blick auf Oberkochen vom Rotstein aus. Bild: Lars Reckermann

Im Jahre 2013 sind meine Familie und ich von Holzwickede nach Ebnat gezogen. Wem die Orte jetzt nichts sagen: Wir sind vom Ruhrpott auf die schwäbische Ostalb gezogen oder vom „Tach“ zum „Gruß Göttle“.


Ich wurde Chefredakteur bei der Schwäbischen Post, einem kleinen, sehr erfolgreichen Verlag in Aalen. Die Landschaft dort hat uns alle sofort fasziniert. Die Kollegen waren, wie in allen Redaktionen, in den ich arbeiten durfte, einmalig. Ich habe mich in der Redaktion sofort wohlgefühlt. Nur mit der Sprache haperte es. Wenn ein Schwabe erst einmal richtig loslegt, fällt es schwer, ihm zu folgen, also mir, meinen Ohren zumindest.


Ich habe in meiner Kolumne oft darauf hingewiesen, wie es für jemanden aus dem Pott ist, nach Baden Württemberg auf die Alb zu ziehen. Das habe ich regelmäßig gemacht. Meinen Stellvertreter hat das ziemlich genervt. Aber ich habe mir eingebildet, mindestens sechs Fans zu haben und einfach weitergemacht.


Es gibt aber auch so viele Unterschiede zwischen einem Schwab und einem Ruhri. Vor allem sprachliche Unterschiede. Kurz nachdem ich in Aalen meine Stelle antrat, kam es zu einer denkwürdigen Begegnung. Für die Gmünder Tagespost, die gehörte ebenfalls zum Verlag, machte ich eine Umfrage zu einer geplanten Ortsumgehung. Als erfahrener Umfrage-Reporter, stellte ich mich in dem betroffenen Ort vor den Supermarkt und fing die Bürger ab. Es ging damals darum, dass die den Bürgern seit Jahren versprochene Ortsumgehung einmal wieder auf die lange Bank geschoben werden sollte. Also kurze Frage an die Passanten: „Was halten Sie davon?“, Foto schießen und Volkes Meinung gerne ganzseitig ins Blatt bringen. Da ich dem Schwäbisch nicht so mächtig war (und noch immer bin), auf der Ostalb aber gerne dialekt gesprochen wird, musste ich arg aufpassen.


Sicherheitshalber ließ ich das Aufnahmegerät laufen. Notfalls müssten mir die Kolleginnen und Kollegen in Schwäbisch Gmünd die Antworten übersetzen. Es lief aber ganz gut. Schwierig wurde es für mich nur, wenn der schwäbische Dialekt extrem schnell gesprochen wird. Noch schwieriger, wenn der Angefragte so aufgewühlt ist, dass sich in seine Antwort Wut mischt. Ich fragte einen älteren Herrn, was er denn von der neuen Situation halte, dass die neue Straße immer noch auf sich warten lasse. „Lugabeidl!“ rief, nein schrie mir der Mann entgegen. Ich fragte noch einmal etwas langsamer und lauter nach. Der Mann war sehr alt. Erneut sah er mich wütend an und sagte: „Lugabeidl!“ Ich erklärte dem Mann, dass er erst einmal auf die Frage antworten solle. Er nuschelte etwas und betonte dann erneut „Lugabeidl!“ Okay, so kamen wir nicht weiter. Da ich der festen Überzeugung war, dass er mir nur immer wieder seinen Nachnamen entgegenbrüllte, fragte ich höflich, ob „Herr Lugabeidl, mir bitte seinen Vornamen geben könnte.“ Was dann auf mich einprasselte, konnte ich nun überhaupt nicht mehr verstehen. Er schimpfte, tobte … ich war der Überzeugung, jetzt lasse er sich über die Politik aus. Aber während er noch tobte, ließ er mich stehen und ging. Ich rief ihm noch hinterher, ich bräuchte doch noch ein Foto, aber es war zu spät.


Was ich natürlich nicht wusste und was ich von der Redaktion erst beim Abspielen der Aufnahme erfuhr: Lugabeidl ist beste Mundart für Lügenbeutel. Das war also seine Antwort auf meine Frage: In der Politik gebe es nur Lügenbeutel. Ich kannte allerdings den Begriff Lugabeidl nicht und auch Lügenbeutel war mir nicht geläufig. Wie verhohnepiepelt muss sich mein Gesprächspartner von mir gefühlt haben. Ich Idiot fragte auch „Herrn Lugabeidl“ noch nach seinem Vornamen. Ich hätte auch meinen Einkauf gepackt und wäre abgehauen. Der arme Kerl konnte ja nicht wissen, dass ich ein „Reingeschmeckter“ (schwäbisch: Rãêgschmeckdr) war - also ein Zugezogener.


Noch oft kam es aufgrund der Sprache zu witzigen Situationen. Da gab es die Geschichte vom ersten Fernsehgerät in Aalen. Ich hatte den Besitzer des Gerätes gefunden. Auf die Frage, wo das Gerät denn bei ihm stehe, sagte er: „Natürlich auf der Bühne“. Ich nickte eifrig. Natürlich konnte dieser Zeitzeuge des Aalener Bewegtbildes nur auf einer Bühne stehen. „Oha“, sagte ich. „sie haben sogar eine Bühne gebaut?“. Der Mann schaute mich etwas komisch an und sagte, die Bühne gebe es schon länger. Opo, der Schwäpo-Fotograf (Schwäpo = Kurzform von Schwäbischer Post), nahm mich beiseite und flüsterte mir zu, dass im Schwabenland der Dachboden „Bühne“ genannt wird. Schade, der Anfangssatz zur Geschichte bröselte gerade vor meinem geistigen Auge dahin. Das olle Teil stand einfach unterm Dach.


Auch meine Frau erwischte es einmal. Sie ging mit einer Freundin zu einer Freiluft-Aufführung in einen Schlossgarten. Was sie denn mitbringen solle: einen Stuhl? „An Deppich genügt.“ Meine Frau wunderte sich etwas, aber warum nicht. Anderes Bundesland, andere Sitten. Dank des Umzuges hatten wir ja noch einen kleinen, grünen Ikea-Teppich im Keller. Als meine Frau den Teppich einrollte und ihn ins Auto ihrer Freundin tragen wollte, wunderte die sich. Ob sie denn nicht „an Deppich“ hätte, das sei doch bequemer. Sie ahnen es: Was für uns ein Deppich oder Teppich ist, ist für die Schwaben eine wärmende Wolldecke.


2016 zogen wir von der Ostalb in den Nordwesten. Es waren drei unvergessene Jahre. Ich kann jedem Leser dieser Zeilen nur wärmstens an Herz legen: Wenn sie einmal auf dem Weg ins Allgäu oder nach Österreich sind unbedingt auf der A7 in Höhe Ellwangen, Aalen, Schwäbisch Gmünd die Autobahn verlassen und sich diese atemberaubend wunderschöne Gegend anschauen.

 

Reichen eigentlich 49 Jahre, na gut, fast 50 Lebensjahre aus, um eine Halbzeitbiografie zu schreiben? Ich denke, es hat sich eine Menge Kurioses, Schönes, Nachdenkliches und Lustiges angesammelt. Bis zu meinem 50. Geburtstag schreibe ich einige Erinnerungen hier einfach einmal nieder. Will doch keiner lesen? Ja Gott, dann lasst es. Wen es interessiert ... willkommen in meiner Welt.

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