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Marcel Gump


 
Ein Foto, fünf Wörter, eine Geschichte. Mein Neffe Marcel hat mir dieses Mal ein Foto und fünf Wörter geschickt. Mit dem Bild und aus den Wörtern muss ich eine (fiktive) Geschichte schreiben - binnen eines Tages. Die Wörter: Bananenkuchen, Elefantenwaschanlage, Polaroidkamera, Raststättentoilette und Raclette.


Das Foto von Marcel und jetzt folgt die Geschichte dazu:

Sie sahen ihn schon von Weitem: Marcel Gump. Wie der Kerl schon aussah mit seinen Hochwasser-Hosen und den dadurch deutlich sichtbaren weißen Tennissocken, die in ausgelatschten Puma-Turnschuhen steckten. Nicht einmal auf dem Weihnachtsmarkt war man vor dem Spinner sicher. Marcel sah seine Nachbarn am Glühwein-Stand stehen und winkte ihnen so überschwänglich zu, als habe er gerade seine seit Jahren verschollene Mutter wiederentdeckt. Der Kerl war nur peinlich. „Hat eigentlich einer von Euch schon einmal mit ihm gesprochen?“, fragte Kerstin. Alle schauten sich an und hoben die Schulter. „Nö“, sagte Sabrina. Auch Andi schüttelte den Kopf. „So einen Dorftrottel hat doch jeder Ort. Unser Dorftrottel wohnt nur zufällig in unserer Straße – einfach ignorieren“, sagte er.

Marcel lief auf die Gruppe zu. Noch im Rennen zählte er laut. „Eins, zwei, drei, vier … - vier Glühwein, okay?“, fragte er in die Runde.


Am Tisch hatten wohl alle gerade exakt diese Gedanken: Ausgeben lassen, schnell austrinken, abhauen. Sie schauten sich an und nickten. Marcel strahlte über das ganze Gesicht. „Seid ihr jetzt öfter hier?“, fragte er. Die Vier schauten sich fragend an. Niemand wollte etwas Falsches sagen. Am Ende hatten sie ihn noch länger an der Backe als nötig. Marcel lächelte alle an. „Schön, dass wir einmal einen Glühwein zusammen trinken. Meine Mutter sagte immer: ‚Das Leben ist wie ein Becher voller Glühwein, Man weiß nie, was sich nach dem Austrinken noch am Becherboden befindet.“ Die Nachbarn verzogen angewidert ihre Gesichter. „Ist ja ekelhaft“, sagte Kerstin.

„Worüber sprecht ihr denn so?“, fragte Marcel.

„Was es an Heiligabend zu Essen geben sollte“, sagte Sabrina. „Kartoffelsalat und Bockwürstchen, Wildgulasch und Knödel oder Raclette.“

Marcel lächelte Sabrina an. „Das ist aber schwierig. Ich mag gerne Raclette. Da fühle ich mich immer wie ein Meisterkoch, und jedes Pfännchen ist mein ganz persönliches Menü. Also ich bin für Raclette.“ Andi massierte sich die Schläfen. „Das war keine Abstimmung, nur eine kleine Diskussion.“

„Lasst uns doch alle zusammen einmal Raclette essen“, schlug Marcel vor. Marcel schaute in die Runde und jeder aus der Gruppe schaute verlegen zu Boden. Andi behielt die Nerven und wechselte, ohne auf Marcels Vorschlag einzugehen, das Thema. „Was machst Du eigentlich so?“, fragte er Marcel. „Wir sehen Dich zwar immer, wissen aber gar nichts von Dir.“


Marcels Augen strahlten. „Noch nie hat mich jemand aus der Nachbarschaft danach gefragt“, sagte er. „Wo fange ich an…?“ Sabrina ging gleich dazwischen. „Nach dem Glühwein müssen wir alle los. Wenn Du uns also die Kurzversion liefern könntest…!?“ Marcel klopfte ihr auf die Schulter. „Das ist eine gute Idee. Das mache ich.“ Marcel begann mit einem so unglaublichen Wort, dass die Gruppe ihren Glühwein für die Dauer der Geschichte vergessen sollte. Alle Vier wurden Ohrenzeugen der unglaublichsten Geschichten, die sie je gehört hatten. Marcel begann:


Elefantenwaschanlage!“

„Bitte was…?“, fragte Andi nach.

„Na ja, damit begann quasi alles“, sagte Marcel. „Meine Mutter war eine richtige Quasselstrippe.“. Er kramte aus seinem Portemonnaie ein kleines Foto, ein Polaroid, hervor. Das schon mit einer Patina belegte Bild zeigte seine Mutter mit einem Telefonhörer in der Hand. Ihr Mund war geöffnet, als rede sie gerade mit jemandem am anderen Ende der Leitung. „Na ja, meine Mutter wollte immer nur telefonieren. Das hat ihr so viel Freude gemacht. Als sie dann hörte, dass in Jabalpur eine riesige Telefonzentrale eröffnet wird, zogen wir dahin.“ Sabrina ging dazwischen. „Wo liegt denn Jabalpur? Oder meintest du Jena?“


Marcel klatschte sich vor die Stirn. „Ich Idiot. Jabalpur ist wirklich nicht so bekannt. Die Stadt liegt in Indien. Da sind wir dann hingezogen.“ Er trank einen Schluck und fuhr fort: „Mir war aber langweilig in dieser Millionenstadt. Anders als meine Mutter telefoniere ich nun einmal nicht gerne. Zum Glück machten genau zu dieser Zeit meine Freunde Clemens und Andrej eine Rucksacktour durch Indien. Sie kamen mich besuchen. Clemens und Andrej sind wirklich meine besten Freunde. Weil wir zusammenbleiben wollten, haben wir gemeinsam in einer Tankstelle gearbeitet. Clemens hat die Autos vollgetankt, Andrej und ich haben an der Waschanlage mitgeholfen.“ Die Vier schauten immer noch gebannt auf Marcel. „In Indien gibt es viele Elefanten. Jabalpur liegt quasi am Elefanten-Nationalpark-Kreuz. Da die Tiere gerne mit Wasser spielen und geschrubbt werden, haben wir einmal einen Elefanten durch die Waschanlage laufen lassen. Das hat dem richtig gutgetan. Der hat vielleicht laut getrötet“, erzählte er und gluckste dabei. Jetzt wussten die Vier, dass sie es hier mit einem etwas naiven Endzwanziger oder Mittdreißiger zu tun hatten. Wie alt war er überhaupt? Wer sprach denn so?


Marcel bemerkte die Blicke nicht: „Es sprach sich auf jeden Fall schnell herum, dass die Tiere unsere Elefantenwaschanlage liebten. Und so kamen immer mehr und mehr Elefanten. Oh Mann, es waren so viele. Es gab richtig Ärger mit den Anwohnern, da die Elefanten alles platt getrampelt haben. Noch schlimmer, sie haben alles vollge…“, Marcel zögerte.

„…kackt, alles vollgekackt“, sagte Kerstin. Marcel nickte verlegen und erzählte weiter: „Also haben wir Toilettenhäuschen für die Elefanten gebaut. Das waren eigentlich nur so blaue Plastikboxen, dort sollten die Tiere hinmachen.“ Ein weiterer Freund von mir, Fritz, hat die Dinger in Deutschland hergestellt. Wir hatten quasi das Monopol auf diese Häuschen. Wir haben also die WCs entlang der Elefantenroute platziert. Inzwischen hatten viele indische Tankstellen unsere Idee geklaut. Unser Geschäft lief nicht mehr so gut. Wir mussten also besser werden. Wie gewinnt man das Herz von Elefanten?“ Marcel guckte kurz in die Runde.

„Futter?“, fragte Kerstin.

„Richtig!“, entgegnete Marcel. „Glaubt mir, das leckerste Essen macht die Mutter von unserem Freund Peter. Den haben wir gleich angerufen. Er wollte sofort wissen, welche Zutaten es denn in Indien in rauen Mengen gibt. Na, wisst ihr’s?“

„Curry?“, fragte Andi und erntete ob des Klischees böse Blicke der Tischrunde. Nur Marcel nickte ihm zu. „Fast, Masala sagen die Inder übrigens zu dieser Gewürzmischung. Nein, Indien ist weltweit führend im Bananenanbau. Elefanten mögen Bananen. Was sie aber noch mehr mögen, ist seit einigen Jahren der Bananenkuchen von Peters Mutter. Also haben wir Bananenkuchen-Restaurants auf dem Weg zu unseren Elefantenwaschanlagen gebaut. Inzwischen gab es mehrere davon.“

„Wie viele Waschanlagen hattet ihr denn?“, fragte Kerstin.

„Etwa 500“, sagte Marcel. „Die Elefanten-Toiletten bauten wir neben die Bananenkuchen-Restaurants. Das waren quasi Raststättentoiletten für Elefanten.“

„Aber Du bist jetzt hier bei uns, lebst hier … Warum eigentlich, wenn Du doch so erfolgreich warst?“, fragte Andi.

„Als meine Mutter starb, verließ ich wieder Indien. Die Waschstraßen verkauften wir an Jumbo. Unsere mobile Toilettenidee hatten wir markenrechtlich gesichert. Weil wir die Idee nicht ‚Klos für Dickhäuter‘ nennen wollten, nannten wir die Erfindung einfach ‚Dixie‘. Das zweite Unternehmen sollte Tröt, Tröt heißen, aber da gab es Probleme mit einem Kinderelefanten namens Benjamin. Also tauften wir die Firma ‚Toi, Toi‘. Für das Bananenkuchen-Rezept bot uns Chiquita mehrere Millionen Dollar. Aber Chiquita behandelt seine Mitarbeiter schlecht, also haben das Rezept allen Nationalparks in Indien geschenkt, die sich um Elefanten kümmern. Die dürfen das seitdem vermarkten. Ja… und jetzt bin ich wieder hier.“


Stille. Andi sammelte sich als Erster. Der Glühwein war längst kalt geworden. „Du bist also ein deutscher Selfmade-Millionär aus Indien, der mit einer Elefantenwaschanlage ein multinationales Firmenkonsortium aufgebaut hat, weil seine Mutter Telefonistin in Jalajala werden wollte?“

„Jabalpur“, verbesserte ihn Marcel.

Kerstin löste sich aus ihrer Starre. „Ehrlich …? Das kannst Du der Königin von England erzählen, aber nicht uns.“

„Witzig…“, sagte Marcel, „… das habe ich ihr auch genauso erzählt.“ Die fand das so unglaublich, dass sie mich zum Ritter schlug. Marcel zog ein weiteres Polaroid-Foto aus der Innentasche. „Das Foto trage ich als Erinnerung immer bei mir.“ Das Bild zeigte die Queen und Marcel.

„Und so einen Moment hält man mit einer Polaroidkamera fest …?“, entgegnete Kerstin skeptisch.

„Meine Mutter sagte immer, Polaroids seien die ehrlichsten Fotos, weil die noch echte Momente festhalten“, antwortete Marcel.


Die Runde war platt. „Jetzt ist euer Glühwein kalt. Wollt ihr noch einen?“, fragte Marcel. Alle schüttelten den Kopf. „Wir müssen los“, sagte Andi.

„Okay“, sagte Marcel. „Ich bin jetzt eigentlich auch verabredet.“ Er schaute sich um. Ein Mann näherte sich der Gruppe. „Das ist doch …“, schluckte Kerstin, „… das ist doch …“ Marcel beendet das Stottern: „Darf ich vorstellen. Das ist Tom Hanks, der hat mich quasi im Kino gespielt, also meinen Werdegang. Völlig übertrieben. Hollywood eben. Ich war nie im Krieg und kann auch gar nicht Tischtennis spielen.“ Tom grüßte nett in die Runde und drückte seinen Kumpel Marcel. Die Runde bekam den Mund nicht mehr zu. Marcel zückte seine Polaroidkamera. Tom stellte sich zu der sprachlosen Gruppe. Ein Knopfdruck. Die Maschine hauchte ein Foto aus. Marcel legte das Bild auf den Tisch und verschwand mit dem Schauspieler in der Menge. Andreas trank den kalten Glühwein in einem Zug aus. Die Reste von dem festgeharzten Kartoffelsalat auf dem Becherboden sah er nicht einmal.

 

Lust, Euch an der Aktion zu beteiligen? Schickt mir ein von Euch gemachtes Bild und fünf Wörter dazu. Sollte am Tag mehr als ein Bild bei mir eintrudeln, müsste ich um Aufschub bitten. Ich arbeite dann von vorne weg.

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