Ein Foto, fünf Wörter, eine Geschichte. Carsten Groß hat mir ein Foto und fünf Wörter geschickt. Mit dem Bild und aus den Wörtern muss ich eine (fiktive) Geschichte schreiben - binnen eines Tages. Die Wörter: Schwiegermutter, Renaissancen, Schwarzwälder-Kirsch-Torte, moppern und Zahnwurzelbehandlung.
Was sollte er machen? Er war Anfang 40 und hatte nun wirklich keinen Job, der ihn in die Rente bringen würde. Zeitung. Gedruckt. Nicht einmal fürs Digitalgeschäft war er zuständig. Die Frau hatte ihn verlassen. Für seine fünf Kinder würde er noch jahrelang bezahlen. Wieso war er wieder auf eine Frau hereingefallen. Schon die erste Scheidung kostet ihn ein Vermögen – zumindest für seine Verhältnisse.
Er könnte Lotto spielen. Das wollte er aber nicht. Er hatte einmal gelesen, dass nur Menschen mit mangelndem Selbstbewusstsein Lotto spielen. Gescheiterte, die selbst nicht daran glaubten, dass sie aus eigener Kraft im Beruf weiterkommen.
Er war für den Anzeigenverkauf zuständig. In einer ländlich geprägten Region. Weite Wege. Wenig Geld. Der Einzelhandel darbte. Warum hatte er sich damals auf dieses mickrige Grundgehalt und die hohen Provisionen eingelassen? Null Anzeigen bedeutete auch null Euro Provision. Okay, er kannte alle seine Kunden persönlich. Aber die wollte von ihm eine zündende Verkaufsidee und keinen Millimeterpreis. Den einzigen Großkunden in seiner Region managte zudem die Zentrale.
Zumindest konnte er noch im Haus wohnen. Das gehörte seinen Schwiegereltern, besser gesagt der Schwiegermutter. Sein Schwiegervater war vor einem Jahr gestorben. Na ja, „Haus“ war etwas untertrieben. Es handelte sich um eine riesige Hofstelle mit leeren Ställen, unglaublich viel Land, Weiden und Wäldern. Aber am Arsch der Welt verarmten selbst Großgrundbesitzer.
Seine Ex lebte mit den Kindern im Erdgeschoss. Er teilte sich eine Etage mit der schrulligen Alten. Zumindest hatte jeder seinen eigenen Eingang und ein eigenes Bad. Für ihn war seine Schwiegermutter verrückt. Stundenlang durchstreifte sie die Wälder. Oder sie entrümpelte an einem Tag einen der unzähligen Schuppen, um ihn tags darauf wieder voll zu rümpeln. Von einem Nachbarn, der etwa 20 Autominuten von ihr einen Milchhof unterhielt, hatte sie vor einem Jahr einen alten Fendt-Trecker beim Scrabbeln gewonnen. Einen Fendt Farmer 1 aus den 60er Jahren. Voll das verrostete Teil, das aber mit seinen 25 Pferdestärken spielend jede Hürde auf dem Hof meisterte. Dass ihr einmal ihre Ruhrgebietswurzeln zu einem Trecker verhelfen würden, hätte sie nie gedacht. Es ging in die letzte Scrabble-Runde und ihr Nachbar sicherte sich 13 Punkte mit dem Wort „Mopp“. Hätte er gewonnen, hätte er die an sein Grundstück angrenzende Weide zehn Jahre kostenlos nutzen dürfen. Sie machte aber aus „Mopp“ die Ruhrgebietsvariante für meckern und sicherte sich mit dem Wort „moppern“ und daraus resultierenden 16 Punkten den Sieg. So ging das auf dem Land.
Sie schlief so gut wie nie. Wenn er morgens um 8 Uhr das Haus verließ, war sie schon immer unterwegs. Den stinkenden Trecker roch und hörte er bereits vor dem ersten Vogelgezwitscher. Was machte sie denn jetzt? Er schaute aus seinem kleinen Badezimmerfenster. Mit ihrem Trecker zog sie mit Moos bedeckte Steinkreuze unter eine alte Buche, die seit Jahrzehnten auf dem Hof stand und Schatten spendete. Das verrückte Huhn. Vermutlich hatte sie die morbiden Trophäen beim Bingo abgestaubt. Sie sah ihn am Fenster stehen und winkte. Na ja, zumindest behandelte sie ihn weiterhin wie ein Familienmitglied und keinen Aussätzigen. Er winkte zurück und machte sich dann fertig. Heute musste er für die jährlich vier Mal erscheinende Gesundheitsbeilage Anzeigen verkaufen.
Ein Arzt, ein Zahnarzt, eine Apotheke – da wollte er heute vorbeischauen. Die Apotheke gab ihm sofort einen Korb. „Wir haben unsere Stammkunden. Neue kommen sowieso nicht.“ Der Arzt hatte auch kein Interesse. Blieb nur dieser neue, junge Zahnarzt. Der war auch ein Freak. Er fuhr einen neuen Ford Mustang und hatte das kleine Haus im Ort bunt angestrichen. So ein Spinner. „Überraschen Sie mich. Ich will bekannt werden. Aber ich möchte nicht mit Seniorenwindeln und Hörgeräte in einen Topf geworfen werden“, sagte der junge Arzt. „Ich kann Ihnen ja einen Grabstein vor die Tür stellen und als Grabinschrift erwähnen, dass in ihrer Praxis noch nie jemand gestorben ist.“ Er drehte sich um, und wollte die Praxis direkt wieder verlassen. „Nehme ich“, sagte der Dentist. „Witzig. Das geht bestimmt auch viral.“ Was? Er schaute verdutzt. War das sein ernst? Wie sollte er das denn abrechnen?
Seine Schwiegermutter schenkte ihm natürlich den Gruftschmuck. „Such Dir etwas aus. Es sind ja genug da“, sagte sie. Er suchte sich ein sehr großes Kreuz aus und ließ dort von seiner ältesten Tochter mit weißer Farbe den Satz draufschreiben: „Hätte ich mich doch für eine Zahnbehandlung entschieden.“ Mit dem Farmer 1 und dem kleinen Anhänger lieferte er das Kreuz am nächsten Tag aus. Der Zahnarzt lachte sich schlapp. „Was hat das Kreuz für eine Form? Ist das gothisch?“ Was wusste er denn. „Oder renaissansisch“, antwortete er etwas verlegen. Der Zahnarzt verbesserte ihn: „Sie meinen Renaissancen“, korrigierte ihn der Doktor. Warum der Studierte den Plural benutzte, wusste er selber nicht. Das war ihm aber auch egal. Im Arztkittel machte er sofort ein Foto und teilte es auf seinen sozialen Kanälen. Der Shitstorm ob der Geschmacklosigkeit interessierten ihn nicht. Er war im Gespräch. Das Fernsehen kam. Und er sorgte dafür, dass seine Zeitung darüber berichtete.
Der Ort war im Gespräch und der örtliche Marketingclub strickte gemeinsam mit dem aufstrebenden jungen Anzeigenverkäufer aus dem Friedhof-Thema eine in der Region noch nie dagewesen Kampagne. Es gab Slogan wie „Heimat statt Heimgang“. Die bis zur Grabmal-Idee vor dem Ruin stehende Kneipenszene erlebte dank des Spruches „Intus statt Exitus“ eine regelrechte Auferstehung. Der Schmied verkaufte sich als Sensemann und das örtliche Café wurde zum Gelehrten-Hotspot. Die Café-Inhaberin hatte auf einen überdimensionierten Sarg den Satz geschrieben: „Media vita in sumus morte – aber erst noch eine Schwarzwälder-Kirsch-Torte“. Die echten Gelehrten unterhielten sich bei Kaffee und Kuchen über den falsch wiedergegebenen Satz, der richtig hätte lauten müssen „Media vita in morte sumus“ („Mitten im Leben sind wir im Tod“). Die falschen Gelehrten schauten bei Google nur auf die Übersetzung. An welcher Stelle das eigentliche Prädikat hätte stehen müssen, war ihnen egal. Es schmeckte letztendlich allen.
Er wurde zum Held. Er hatte aus der Vergänglichkeit etwas Beständiges gezaubert. Er war Anfang 40 und hatte wieder eine Zukunft.
Lust, Euch an der Aktion zu beteiligen? Schickt mir ein von Euch gemachtes Bild und fünf Wörter dazu. Sollte am Tag mehr als ein Bild bei mir eintrudeln, müsste ich um Aufschub bitten. Ich arbeite dann von vorne weg.
Ich habe ja nun wirklich die Zeit, schreibe seit Jahrzehnten täglich - aber Ihre Berichte und Geschichten sind ja nun wirklich skurill und anregend! So kriege ich Reckermann ja nie aus dem Kopf - will ich auch gar nicht!
dieser lateinische, doppelte Rittberger um auf "Torte" zu kommen: Genial ! Ich will noch mal Millimeter-Cowboy auf'm Land werden.